Demokratisierter Luxus
Der in 1923 in Wien geborene und später nach Frankreich ausgewanderte Sozialphilosoph André Gorz war in den 70er Jahren einer der Vordenker der politischen Ökologie. Zu dieser Zeit, als das Ausbreitung des Autos die Städte bereits unübersehbar verändert hatte, schrieb er für die französische Monatszeitschrift Le Sauvage einen Artikel mit der Überschrift "The Social Ideology of the Motorcar" (die soziale Ideologie des Autos), der die Folgen dieser massenhaften Verbreitung sehr anschaulich beschreibt. Ein paar Auszüge:
Das schlimmste an Autos ist, dass sie wie Burgen oder Strandvillen sind: Luxusgüter, die für den ausschließlichen Genuss durch eine sehr reiche Minderheit geschaffen wurden und die sowohl von der Idee als auch aus ihrer Natur heraus nie für alle gedacht waren.
Der Staubsauger, das Radio oder das Fahrrad behalten ihren Wert, auch wenn jeder eins besitzt. Anders das Auto: wie die Strandvilla ist es nur begehrenswert und nützlich, wenn die Massen keins besitzen. Deswegen ist das Auto von der Idee und dem anfänglichem Zweck immer ein Luxusgut gewesen. Und die Hauptsinn des Luxus ist, dass er nicht demokratisiert werden kann. Wenn jeder diesen Luxus besitzt, hat keiner etwas davon.
Heutzutage ist es unübersehbar, dass die Demokratisierung des Autos niemandem geholfen hat. Für Autobesitzer ist das Auto kein Luxus mehr, sondern eine teuer erkaufte Notwendigkeit. Sicher, manche möchten mit einem besonders teuren Fahrzeug die Nachbarn neidisch machen, aber nur die wenigsten würde freiwillig soviel Geld investieren um im Stau zu stehen. Inzwischen ist es mehr Luxus, ein Auto nicht nötig zu haben.
Das ist das Paradox des Automobils: es scheint seinen Besitzern grenzenlose Freiheit zu verschaffen, zu reisen wann und wohin sie wollen, mit einer Geschwindigkeit gleich oder größer als die eines Zugs. Tatsächlich aber bringt diese oberflächliche Unabhängigkeit eine radikale Abhängigkeit mit sich. Im Unterschied zum Reiter, Pferdewagen- oder Fahrradfahrer ist der Autofahrer von Treibstoffversorgern abhängig und braucht selbst für kleinste Reparaturen die Hilfe von Händlern, Spezialisten für Motoren, Öl und Zündung, und dauerhafte Verfügbarkeit von Ersatzteilen.
Absurd, wie die persönliche Wahrnehmung und die Realität soweit auseinander liegen. Die freie Fahrt für freie Bürger ist in Wirklichkeit eine extreme Unfreiheit. Nur wenige wissen, wie man an einem Auto mehr macht als den Reifendruck zu messen. Mit der Computerisierung in der Kfz-Technik werden immer weitere Teile zu einer Black Box. Man nutzt es, solange es funktioniert, wenn es nicht mehr funktioniert ist man komplett der Gnade anderer ausgeliefert.
Ganz anders das Fahrrad: jeder kann zuhause eigentlich alles reparieren, was einem Fahrrad bei normaler Benutzung zustossen kann. Wer mehr lernen will, geht in eine Selbsthilfewerkstatt und lässt es sich zeigen.
Ein typischer Amerikaner widmet sich 1.500 Stunden im Jahr seinem Auto, also 30 Stunden die Woche oder 4 Stunden am Tag, sogar am Wochenende. Das ist sowohl Zeit hinter dem Steuer, in Bewegung oder im Stau, als auch die Arbeitszeit, deren Lohn für das Auto selbst, für Benzin, Reifen, Maut, Versicherung, Strafzettel und Steuern ausgegeben wird. Ein Amerikaner braucht daher 1.500 Stunden für 9.600 Kilometer im Jahr. Durchschnittsgeschwindigkeit: 6,4 km/h.
Das ist das Höchste der Paradoxe: ein unglaublicher Zeit- und Ressourcenaufwand, der am Ende zur Durchschnittsgeschwindigkeit eines Fußgängers führt! Und das war 1973, heute legen Amerikaner weitaus größere Strecken zurück und verbringen noch mehr Zeit im Stau. Wer diese Rechnung einmal für Deutschland durchführen will, möge einen Kommentar schreiben, das Ergebnis wäre sicher ähnlich schockierend.